Kolonialismus in den Dingen
Der Kolonialismus in den Dingen
«Dinge haben ein soziales Leben, schrieb der Kulturanthropologe Arjun Appadurai vor fast vierzig Jahren. Kulturelle Erzeugnisse, ob nun des Alltags, der Religion oder der Kunst, ob greifbar oder immateriell, schweben zwischen Ding-Sein und Lebendig-Sein. Ganz besonders deutlich wird dies bei Kunst-, Macht- und Ritualobjekten, die mit Hilfe aufwendiger Handlungen öffentlich in Szene gesetzt werden, oder auch: zum Leben erwekt. Man denke an die Besteigung eines Throns, die Ausleuchtung einer Skulptur, das Präsentieren der Waffen während einer Militärparade oder das Zelebrieren einer Messe mit liturgischem Gerät. …
Dinge haben das Potenzial menschliche Beziehungen und Ideen zu bündeln und fassbar zu machen. Sie wandeln sich mit den Gesellschaften, in die sie gestellt sind. Realisiert werden kann dieses Potenzial aber nur durch gemeinsame Erinnerungs- und Verständigungsarbeit über ihre Bedeutung.
Der «Kolonialismus» in den Dingen, die in der Kolonialzeit nach Europa gebracht wurden und heute in ethnologischen Museen aufbewahrt werden, rührt von ihrer Beziehungsfähigkeit her. Die Dinge konnten garn nicht unberührt bleiben von der politischen Überwältigung, der psychischen und physischen Gewalt bis hin zum Genozid, der ökonomischen Ausbeutung und der ideologischen Durchformung globaler Beziehungen, die Kolonialismus ausmachen – und letztlich auch vom Widerstand und der Befreiung der Kolonisierten. …»
Aus: Hölzl, Richard. Einleitung. Der Kolonialismus in den Dingen. In: Kolonialismus in den Dingen. Das Museum Fünf Kontinente und seine Bestände aus der Kolonialzeit. Hsg. Richard Hölzl – Museum Fünf Kontinente. München 2024. S. 9-20.
Restitutionsdebatte
Restitutionsdebatte
In der Restitutionsdebatte, in deren Mittelpunkt die Frage steht, wie mit den Ethnographica, Kunstwerken und Naturalia umgegangen werden soll, die während der Kolonialzeit nach Europa gebracht wurden, geht es auch um eine Neubewertung europäischer Geschichte» schreibt Rebekka Habermas.
Diese Diskussion wird in Europa nicht zum ersten Mal geführt. Bereits in den 1960er Jahren wurde im Zusammenhang mit Forderungen nach Rückgabe von Artefakten von verschiedenen Ursprungsgesellschaften die Frage der Restitution wenig erfolgreich diskutiert. Erst im neuen Jahrtausend und intensiv in den vergangenen Jahren findet eine Diskussion über den Umgang mit den kolonialen Objekten statt.
Der Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter verfasst vom senegalesischen Schriftsteller und Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr sowie der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy stellt einen Meilenstein im Zusammenhang mit der Restitutionsdebatte dar. Thema ist der Kontext und die Modalitäten der Restitution von afrikanischem Kulturerbe aus den öffentlichen Museen und Sammlungen in Frankreich. Im Zusammenhang mit diesem Bericht deklarierte der französische Präsident Macron, dass Frankreich geraubte Kunst zurückgeben wolle.
In ihrem Bericht schreiben Bénédicte Savoy und Felwin Sarr, dass 90 Prozent der afrikanischen Kulturgüter sich in europäischen Sammlungen, die direkt auf die Kolonialzeit zurückgehen, befinden. Dies gilt auch für Schweizer Museen.
Restitution und Provenienzforschung in der Schweiz
Siehe zur Verbindung von Restitution und Provenienzforschung sowie der unabhängigen Kommission für historisch belastetes Kulturerbe auf dieser Webseite unter Provenienzforschung.
Literatur
Über das Zurückgeben. Ein Interview von Gabriele Metzler mit Bénédicte Savoy. 2021 Zeitgeschichte. Link
Bénédicte Savoy – Kolonialkunst muss zurück nach Afrika. Sternstunde Philosophie Oktober 2020 SRF.
Habermas, Rebekka. Restitutionsdebatten, koloniale Aphasie und die Frage, was Europa ausmacht. bpb 2019.
Eugster, David. Koloniale Raubkunst: «Bei der Rückgabe gibt es kein Limit». 2.2.23 swissinfo, Link
Wie umgehen mit Ahnen – menschlichen Überresten in Museen
Begriffe
Bei der Wahl der Begriffe soll zum Ausdruck kommen, dass es sich um Menschen und nicht um Objekte handelt. Dieser Wandel in der Wahrnehmung ist zentral um einen respektvollen Umgang mit diesen bis heute andauernden grausamen Folgen des Kolonialismus zu finden.
Vorfahren und Menschen
Auf der Webseite des Grassimuseums wird auf die Problematik des Begriffs «Überreste» hingewiesen und für die Verwendung von Begriffen wie «Vorfahren» oder «Menschen» plädiert. «Heute wird die Verwendung des objektivierenden Begriffs menschliche Überreste kritisch betrachtet und durch humanisierende Bezeichnungen wie Vorfahren oder Menschen ersetzt. Dieser Begriffswechsel ist Teil eines Prozesses, den wir Rehumanisierung nennen. Wenn wir unsere Sprachmuster zu diesen sensiblen Themen ändern, ändern wir auch unsere Perspektive. Diese Familienmitglieder, Gemeindevorsteher:innen und Nachbar:innen wurden mit dem Eintritt in die Sammlungen als Objekte wissenschaftlicher Studien betrachtet»
Repatriierung
Zum Begriff Repatriierung steht auf der Webseite des Grassi-Museum: «Repatriierung bezeichnet das Zurückholen und Zurückbringen von Kriegs- oder Zivilgefangenen in ihr Herkunftsland. Im musealen Kontext wird darunter die Rückgab von Vorfahren* an ihre Herkunftsgesellschaften verstanden. Diese wurden im Kontext des kolonialen Sammelns zu Forschungszwecken an die Museen gebracht.
Umgang mit Vorfahren in deutschen Museen
Wurde 2013 in dem Leitfaden des Deutschen Museumsbunds zum Umgang mit menschlichen Überresten die Forschung an den Skeletten noch verteidigt, ist davon 2021 nichts mehr zu lesen. Allerdings gibt es nach wie vor Stimmen gegen eine Restitution. Ein Argument ist, dass sich nach über 100 Jahren niemand mehr für die Überreste dieser toten Menschen interessieren würde. Immer mehr Museen setzen sich jedoch für die Restitution ein. Der Umstand, dass Tote nie haben begraben werden können und oft von den Mördern entführt und zu pseudowissenschaftliche Untersuchungen missbraucht worden sind, ist für betroffene Familien und Gemeinschaften bis heute traumatisierend. Die toten Menschen bleiben ohne Grab und ohne Gedenken. Bereits zu ihren Lebzeiten wurden sie einem entwürdigenden und entmenschlichenden Vorgehen ausgesetzt. Dies bleibt nach ihrem Tod bis heute bestehen. Von Seiten des Grassimuseums wird betont, dass nach der Dehumanisierung durch die Kolonialisatoren es zentral ist eine Rehumanisierung anzustreben. Wesentlich ist es auch, mit den Herkunftsgesellschaften in Kontakt zu treten. Sie sollen bestimmen, wie eine Restitution ablaufen soll.
We want them back. Wissenschaftliches Gutachten zum Bestand menschlicher Überreste / Human Remains aus kolonialen Kontexten in Berlin (decolonize Berlin)
Das wissenschaftliche Gutachten We Want them Back ist eine Bestandsaufnahme menschlicher Gebeine aus kolonialen Kontexten im Besitz des Landes Berlin. Es soll Informationen über Bestände der Berliner Kultureinrichtungen offenlegen und Familienangehörigen und Herkunftsgemeinschaften die gezielte Suche nach ihren Vorfahren ermöglichen. Decolonize Berlin e.V. 2022 Link
Bericht: «Umgang mit menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten» 2023
Am 29.12.23 wurde der Bericht «Umfrage zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten in Museums- und Universitätssammlungen in Deutschland» veröffentlicht.
Falko Mohrs, Vorsitzender der Kulturministerkonferenz 2023, sagte: «Der Umgang mit menschlichen Überresten aus kolonialem Kontext in Deutschland war in der Vergangenheit häufig fragwürdig. Jetzt haben wir die Chance, es besser zu machen. Wo immer es geht, sollen Transparenz geschaffen und mit aller gebotenen Sensibilität Rückgaben ermöglicht werden.»
«Überreste» von 17’000 Menschen aus «kolonialen Kontexten» befinden sich in Museen und Sammlungen. Allerdings dürfte die Zahl noch höher sein, da nur die «31 mutmasslich grössten Sammlungen » befragt worden sind. Erschreckend ist, wie in den Museen bis anhin mit dieser sensiblen Thematik umgegangen worden ist. So schreibt beispielsweise Jörg Häntzschel in der Süddeutschen: «Die größte Schwäche der Studie ist, dass sie sich auf die Auskünfte der Museen stützt, die oft selbst kaum wissen, was in ihren Kellern liegt. 32 Prozent gaben an, ihre menschlichen Überreste seien nicht inventarisiert; für 38 Prozent von diesen konnten die Museen nur Annäherungswerte nennen. Und bei 7500 der 17 000 Überreste wissen die Museen nicht einmal, von welchem Kontinent sie stammen.»
Menschliche Überreste in deutschen Museen: Albtraumhaftes Erbe, Jörg Häntzschel, sd-online, 1.1.2024.
Übersicht über Restitutionen aus Deutschland (bis 2022)
Gram, Rikke and Zoe Schoofs. Germany’s history of returning human remains and objects from colonial contexts: An overview of successful cases and unsettled claims between 1970 and 2021. Deutsches Zentrum Kulturgutverluste 2022. open access
Stellungnahme des Arbeitskreis Provenienzforschung e.V. vom Juli 2024
Stellungnahme des Expert*innen-Netzwerks zum Umgang mit menschlichen Überresten zur Etablierung eines Fonds zur Rückführung menschlicher Überreste: Link
Dokfilm 2024: „Das leere Grab“ – Tansania
Der Film von Agnes Lisa Wegner und Cece Mlay wurde auf der Berlinale 2024 gezeigt. «Für den Film hat das deutsch-tansanische Regie-Duo Cece Mlay und Agnes Lisa Wegner zwei Familien aus Tansania auf der Suche nach den sterblichen Überresten ihrer Vorfahren begleitet. Auch heute noch lagern kistenweise Gebeine aus Afrika in den Kellern der ethnologischen Museen Europas. Im Lauf der Recherche hat das Projekt viel an politischer Aufmerksamkeit gewonnen. Sogar Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besuchte das Grab von Nduna Songea Mbano und entschuldigte sich für die deutschen Gewalttaten. Dennoch fühlen sich die tansanischen Familien von der Politik nicht gehört.» SWR2 20.2.24
Dokfilm: Handel mit Menschenschädeln aus der Kolonialzeit
In der Sendung Panorama (NDR) vom 8.10.24 zeigen die Reporter:innen die schockierende Tatsache auf, wie heute in Europa mit Menschenschädeln, die in der Kolonialzeit nach Europa gebracht worden sind, gehandelt wird. Auf Instagramm zeigt sich ein internationales, grosses Netzwerk von Sammlern von Menschenschädeln, zahlreiche aus der Kolonialzeit. Dahinter stand in der Regel ein Verbrechen, entweder die Ermordung der Menschen oder eine Grabschändung.
Es wird auch aufgezeigt, dass es bezüglich des Zolls nicht ein Problem ist, einen menschlichen Schädel einzuführen. Wenn es beispielsweise ein mit Muscheln geschmückte Ahnenkopf aus der Kolonialzeit ist, gibt es ein Verbot, wegen den unter Schutz stehenden Muscheln, nicht wegen dem menschlichen Schädel, der für die Herkunftsgemeinschaften von hohem religiösen Wert ist. Der Schädel steht nicht unter Schutz. (ca. Min. 10-13). Ein eglischer Händler verweist darauf, dass der Handel mit Überresten von Tieren viel komplizierter ist, als der Handel mit menschlichen Überresten, auch denjenigen aus der Kolonialzeit.
Vertreter von Herkunftgesellschaften sind fassungslos und schockiert darüber, dass dieser Handel überhaupt möglich ist. Eine Aussage ist, dass die Würde des Menschen damals nicht zählte und auch heute nicht zählt.
Im dritten Teil des Dokfilmes recherchieren die Journalist:innen zur Herkunft eines Ahnenkopfes aus Papua-Neuguinea, der versteigert wird. Er kann zu einem Dorf am Sepikfluss zurückverfolgt werden und ein Nachfahre erzählt, wie ihm sein Grossvater vom Raub der Ahnenköpfe durch Deutsche berichtet hatte. Wie sie sich nicht gegen den Raub wehren konnten, aus Furcht getötet zu werden. Ihre Bräuche und Kultur sind durch die Kolonisatoren zerstört worden. Er selber konnte daher einen Teil davon nicht mehr kennenlernen. Er ist zutiefst schockiert, dass es einen Handel mit den Ahnen, den Helden, die ihr Vermächtnis sind, gibt. (ca. Min. 32 – 45)
Artikel zum Handel mit menschlichen Überresten in Australien: Modern day grave robbers are using emojis and codewords to secretly trade real human bones. Tory Shepherd, guardian, 19.10.2024.
Wie umgehen mit Ahnen – menschlichen Überresten in Museen der Schweiz
Ahnen in Deutschschweizer Museen
Umfrage in Schweizer Museen und universitären Sammlungen
Ägyptische Mumien
Restitution von Ahnen in der Deutschschweiz
Ahnen der Kawésqar, Chile – Anthropologisches Institut der Universität Zürich (2010)
1882 starben 5 Kawésqar in Zürich, nachdem sie zuvor bereits in zahlreichen Städten gezwungen wurden, Teil einer Völkerschau zu sein. Die Leichen wurden der rassistischen Weltsicht der Zeit in Zürich entsprechend zunächst ins Anatomische Institut gebracht und später ins Anthropologische Institut und dort vergessen. Erst 2008 wurden die Skelette von einem Filmemacher «entdeckt».
Rückgabe 2010: Dies dürfte die erste Rückgabe von Ahnen in der Deutschschweiz gewesen sein. Siehe auf dieser Webseite unter Kawésqar.
Ahnen der Veddah, Sri Lanka – Naturhistorisches Museum Basel (2024)
«Das Museum der Kulturen Basel gibt 47 Objekte, darunter einen Zeremonialpfeil und andere Waffen, aber auch Werkzeuge und Töpfe, an eine indigene Bevölkerungsgruppe in Sri Lanka, zurück. Auch das Naturhistorische Museum Basel will 42 Skelette und Schädel dorthin zurückführen. Der Regierungsrat von Basel-Stadt stimmt diesen Restitutionen zu. Sie stellen für die beiden kantonalen Museen einen wichtigen Schritt in der Aufarbeitung der Sammlungen aus kolonialem Kontext dar.» Medienmitteilung des Kantons Basel-Stadt
Bericht zur Restitution von 47 Objekten aus dem Museum der Kulturen Basel (2024)
Restitution Dambana, Sri Lanka: Am 31. Mai 2024 gingen 47 Objekte an die Kulturzentren der Veddah in Dambana, Sri Lanka. Link