Postkoloniale Studien
Was sind Postkoloniale Studien?
«Die Geschichte des Kolonialismus und seiner Folgen wird immer wieder neu ausgehandelt. Seit den 1990er-Jahren rücken Sichtweisen der ehemaligen Kolonialherren in den Hintergrund und die Perspektiven der Menschen, die in den Kolonien lebten, in den Vordergrund. Zu den Zielen der neueren Kolonialgeschichte gehört es nicht nur, Gewalt, Zwangsarbeit und Rassismus in den ehemaligen Kolonien aufzuarbeiten, sondern auch das Wirken derer, die sich Kolonialherrschaft entgegenstellten. Die Postkoloniale Theorie verschärfte zudem den Blick für ihre Langzeitfolgen. Welche Gegenerzählungen zur westlichen Kolonialgeschichte gibt es, die im Kampf um «historische Wahrheiten» häufig an den Rand gedrängt wurden? Was kennzeichnet die Grundbegriffe «Kolonialismus» und «Postkolonialismus»? Wie wirkt das koloniale Zeitalter in ehemaligen Kolonialstaaten und anderen Gesellschaften nach?» Einleitung zum Dossier (Post-)Kolonialismus und Globalgeschichte auf bpb Link
Begriff «postkolonial»
Der Begriff «postkolonial» ist nicht einfach zu fassen. So weisen María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan in ihrer Einführung zur Postkolonialen Theorie darauf hin, dass der Begriff «postkolonial» »trotz aller Versuche der Klärung unscharf und heiß debattiert« bleibe.
Die postkoloniale Herausforderung. Möglichkeiten und Grenzen. Der virtuelle Geschichtstalk vom Mai 2021. Es wird gefragt, was sich unter Postkolonialismus verstehen lässt, welche Möglichkeiten postkoloniale Perspektiven der Wissenschaft eröffnen, wo aber auch vielleicht Grenzen liegen. Diskutiert haben die Historikerinnen Dr. Indra Sengupta (DHI London) und Prof. Dr. Antje Flüchter (Universität Bielefeld), die Soziologin Prof. Dr. Teresa Koloma Beck (Universität der Bundeswehr Hamburg) sowie die Historiker Prof. Dr. Uffa Jensen (TU Berlin) und Prof. Dr. Marko Demantowsky (Universität Basel). Link
Postkoloniale Schweiz
Am IZFG in Bern ist ein Forschungsschwerpunk Postkolonialismus. Seit 2012 sind zahlreiche Texte zum Thema «Postkoloniale Schweiz» publiziert worden.
Postkolonialer Ansatz in der Geschichtswissenschaft: Wer erscheint in den Quellen, wer nicht.
Ein zentraler Punkt ist, dass ein Grossteil der Menschen, die unsere Vergangenheit mitgestalteten, in den Quellen nicht oder nur sporadisch auftauchen. Dies betrifft vorwiegend die Klassenzugehöhrigkeit, aber auch Gender und Herkunft oder die Zugehörigkeit zu einer Minderheit. Dort wo diese Menschen in den Quellen sichtbar werden, sind die Informationen über sie grossmehrheitlich geprägt von der Perspektive europäischer, schreibkundigen Männer. Sehr oft tauchen diese Menschen aber gar nicht auf oder wurden sogar aus den Quellen entfernt. Daher muss ein Ziel in der Geschichtswissenschaft sein, viel stärker darüber zu reflektieren, was nicht in den Quellen steht und wie dieser Umstand zu analysieren ist.
Literatur
Als Einstieg ins Thema eigenen sich folgende Texte:
– Dossier «(Post-)kolonialismus und Globalgeschichte auf bpb:
«Postkolonialismus und intellektuelle Dekolonisation» von Patricia Purtschert, bpb 2017. Link
Kolonialismus und Postkolonialismus: Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte von Sebastian Conrad, bpb 2012. Link
– Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Hsg. Maria do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan. Bielefeld 2015. Leseprobe mit IHVZ
– Postkoloniale Zeitgeschichte? Andreas Eckert. Zeithistorische Forschungen, Heft 3, 2020. online
– Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Hsg. Patricia Purtschert, Barbara Lüthi, Francesca Falk. Bielefeld 2012. Leseprobe mit IHVZ
– Prolog: Mehr als ein Schlagwort. Dekolonisieren (in) der postkolonialen Schweiz. Patricia Purtschert in Tsantsa #24, 2019, S. 14-23. Online
Schlüsseltexte
Said, Edward. Orientalismus. Frankfurt a.M. 2009. (1978)
Spivak, Gayatri. Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien 2020 (Nachdruck). (1985)
Bhabha, Homi K. Die Verortung der Kultur. In: Hybride Kulturen, Hsg. Elisabeth Bronfen u.a. Tübingen 1997. S. 123 – 148. Link
Postkolonialer Ansatz im Geschichtsunterricht
Postkoloniale Perspektive – pädagogische Praxis
In einem Interview (8 Min.) im Rahmen eines Workshops von MigrationsLab erklärt María do Mar Castro Varela prägnant die Grundzüge einer postkolonialen Perspektive und ihre Implikationen für die pädagogisch-künstlerische Praxis in der Migrationsgesellschaft. Ein Zitat von ihr: ,,Ich bezeichne [die postkoloniale Theorie] immer als spezifische Form der Erinnerungswissenschaft – es geht darum zu erinnern, aber das Erinnern immer selbst auch nochmal zu problematisieren.“ Link
Zentrale Punkte für den Unterricht:
- Aufzeigen, wie dominante Kulturen andere Kulturen repräsentieren und damit erstere wie letztere konstituieren.
- Verhindern, diese Konstruktion anderer Kulturen zu reproduzieren.
- Es gibt einen «Raum für agency«. Diese Agency aufzeigen. Die verschiedenen Perspektiven aufzeigen.
- Die gegenseitige Beeinflussung von den kolonisierten Gebieten und dem kolonisierenden Europa aufzeigen.
- Begrifflichkeit reflektieren
- Bilder reflektieren
Siehe dazu auch die Unterseite Rassismus auf dieser Webseite.
Postkolonialismus und Geschichtsunterricht in der Schweiz
Der Schwerpunkt der Dezemberausgabe der vpod bildungspolitik widmet sich dem Thema «(Post)Kolonialismus im Geschichtsunterricht»
Ashkira Darman. Für einen multiperspektivischen, globalgeschichtlichen und postkolonialen Ansatz im Geschichtsunterricht, www.geschichtsunterricht-postkolonial.ch – eine Webseite für Geschichtslehrpersonen. bildungspolitik, Dez. 2023 Link
Ashkira Darman. Mittel zur Anknüpfung an Familiengeschichten Globale Geschichte und postkolonialer Ansatz im Geschichtsunterricht. bildungspolitik, Dez. 2023 Link
Nadine Ritzer geht in ihrem Artikel «Koloniale Schweiz? Postkoloniale Schweiz!» auf die verschiedenen Formen von «kolonialem Komplizentum» von Schweizer:innen ein und zeigt den Prozess des «Othering» für die Schweiz auf, wobei ein Fokus auf dem Othering im Schulbuch liegt. Der Artikel von 2020 ist online verfügbar. Link
In seinem Artikel «Colonial Complicity? The Impact of Post-Colonialism on History Teaching in Switzerland» geht Markus Furrer auf verschiedene Aspekte dieser Thematik ein. Ein Fokus liegt darauf, den Begriff «Colonial Complicity» zu erklären. Interessant ist auch das Unterkapitel zu «Perceptions and representations of colonial history». Dort geht es u.a. um die Ergebnisse einer Analyse von Schweizer Geschichtsbüchern in Bezug auf die Thematik «Kolonialismus» sowie «Dekolonisation». Der Artikel von 2019 ist online verfügbar. Link
In ihrem Artikel «Welche Geschichte braucht das Land?» gibt Nadine Ritzer einen sehr interssanten Überblick über die Geschichte der Geschichtsvermittlung in der Schweiz. «Seit 200 Jahren steht die Frage im Raum, welche Geschichte der nachfolgenden Generation vermittelt werden soll, wie man das am besten tut und welche übergeordneten Ziele damit verfolgt werden sollen.» In ihrem Artikel zeigt die Autorin auf, wie sich das vermittelte Geschichtsbild und die damit verbundenen übergeordneten Ziele über die Jahre seit dem 19. Jahrhundert bis heute verändert haben. Der Artikel erschien im Februar 2022 in NZZ Geschichte Link
Migrationsgesellschaft und Kolonialismus in der Schule in Deutschland
Dekonstruktion von Rassismus in Schulbüchern von Jule Bönkost
Jule Bönkost analysiert in diesem Werk ausführlich den bisherigen Umgang mit Rassismus in deutschen Schülbüchern. Demnach wurde bisher zu sehr der Fokus auf eine Sicht gelegt, die Rassismus als ein Problem „der Anderen“ sieht, ohne die Verwobenheit des rassistischen Systems bis hin in die Mitte der Gesellschaft anzusprechen. Dies ist sowohl in Schulbüchern als auch unter pädagogischem Personal so zu beobachten. 2020. Link
Geschichten im Wandel. Neue Perspektiven für die Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft. Viola B. Georgi, 2023 Neue Perspektiven auf die Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft. open access
Materialien für den Unterricht
Wie überwinden wir Eurozentrismus und Ungleichheit? Artikel im Tages-Anzeiger von Bernhard C. Schär, 22.7.23.
Dieser Artikel eigenet sich zur Lektüre mit Schüler:innen. Er läd ein, sich mit der Rolle und Funktion der Geschichtswissenschaft auseinanderzusetzen.
«Wie alle Wissenschaften sind auch die Geschichtswissenschaften den Idealen der Moderne verpflichtet. Sie erforschen Vergangenheit für eine gerechtere Gegenwart und eine demokratischere Zukunft. Wie alle Wissenschaften ist die Geschichtswissenschaft aber auch Teil des Problems: Sie reproduziert Ungleichheit. … Wir haben heute daher nur eine reduzierte Sicht auf die Welt und uns selbst. Im Fachjargon heisst das Problem: Eurozentrismus. … In der Schweiz haben jüngst Überlebende fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und des ausbeuterischen Migrationsregimes, aber auch Menschen mit Behinderung und viele mehr ihre Stimme erhoben. Dank ihnen entsteht ein realistischeres Bild der Schweizer Geschichte: institutionell demokratisch und aussenpolitisch neutral, ja. Aber auch kolonial verflochten und nationalsozialistisch verstrickt. Sowie erschütternd gewaltsam gegenüber Minderheiten im Innern. Diese verknüpften, historischen Gewalt- und Unrechtserfahrungen verbinden und trennen uns bis heute weltweit. Die praktische Frage der nächsten Jahre lautet daher: Finden wir eine gemeinsame historische Erzählung für eine gerechtere Zukunft?» Link
Themenheft Kolonialismus. Hsg. Bundeskoordination Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Berlin 2022.
In diesem Themenheft werden verschiedene Themen von Black Lives Matter über die Veränderung in Museen zu den Umbenennung von Strassen thematisiert. Auf der Webseite steht: «Deutschland hat über viele Jahrzehnte sein koloniales Erbe verdrängt. Erst seit Kurzem rückt ins Bewusstsein, wie sich dies auf den Alltag, die Kunst, Kultur und Sprache auswirkt. Vor allem der Rassismus gegen Schwarze Menschen ist ohne den Kolonialismus nicht zu verstehen. Wie kann man sich mit dem Thema in der Schule auseinandersetzen? Wie sähe eine kolonialismuskritische Bildung aus?» Link
Das postkoloniale Klassenzimmer. Mark Terkessidis. Baustein 12. Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Berlin 2021. Link
Erste Schritte auf dem Weg zu globalgeschichtlichen Perspektiven im Geschichtsunterricht – Drei Interventionen. Philipp Bernhard und Susanna Popp. Lernen aus der Geschichte 2020. Link
Geschichtsunterricht de-zentrieren. Globale Verflechtungen historische denken lernen. Nicole Schwab. Bielefeld 2020. Link
Literatur
– Erziehungswissenschaften dekolonisieren. Theoretische Debatten und praxisorientierte Impulse. Yaliz Akbaba und Alisha M.B. Heinemann Hsg.. Weinheim 2023. Link
– Geschichten im Wandel. Neue Perspektiven für die Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft. Viola B. Georgi / Martin Lücke / Johannes Meyer-Hamme / Riem Spielhaus (Hg.). Transcript 2022. IHVZ
– Globales lehren, Postkoloniales Lehren. Perspektiven für Schule im Horizont der Gegenwart. Hrsg. Ralf Koerrenz. Reihe Bildung Demokratie. 2020.
– Geschichtsdidaktik postkolonial. Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2016. 15. Jg. Hsg. Bernd Stefan Grewe.
– Wie Rassismus aus Schulbüchern spricht. Kritische Auseinandersetzung mit «Afrika»-Bildern und Schwarz-Weiss-Konstruktionen in der Schule. Ursachen, Auswirkungen und Handlungsansätze für die pädagogische Praxis. Hrsg. Elina Marmer, Papa Sow. Weinheim 2015.
– Deutscher Kolonialismus. Ein vergessenes Erbe? Postkolonialität in der rassismuskritischen Bildungsarbeit. Bildungsstätte Anne Frank 2015. online
Lehrer:innenausbildung allgemein
Ivanova-Chessex, O., Shure, S. & Steinbach, A. (2022). Lehrer*innenbildung – (Re-)Visionen für die Migrationsgesellschaft. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. open access
Akbaba, Yalız, Buchner, Tobias, Heinemann, Alish M.B., Pokitsch, Doris & Thoma, Nadja (2022): Lehren und Lernen in Differenzverhältnissen, Springer VS. open access
Akbaba, Yalız & Wagner, Constantin (2022): Die Schule der Migrationsgesellschaft im Blick, Springer VS. open access
Lokale Initiativen: Schweiz
Bern, Neuenburg, Thun
Cooperaxion führt Stadtrundgänge durch und stellt Informationen zur kolonialen Vergangenheit sowie zum Umgang mit dieser kolonialen Vergangenheit zur Verfügung. Link
Siehe auch auf der Seite «unterwegs» auf dieser Webseite.
Fribourg
Webseite Colonial local: Auf Freiburgs kolonialen Spuren Link
Zürich
Ein Stadtrundgang durchs koloniale Zürich: zh-kolonial
Siehe auch auf der Seite «unterwegs» auf dieser Webseite.
Basel
Basel kolonial hat einen Audiowalk für Gross– und Kleinbasel veröffentlicht.
Lokale Initiativen: Süddeutschland
Freiburg i.B.
Auf der Plattform freiburg-postkolonial sind eine grosse Vielfalt an Informationen zum Thema Kolonialismus, Postkolonialismus, Erinnerungskultur sowie aktuelle Veranstaltungen mit einem Fokus auf Süddeutschland zugänglich.
Es werden auch Stadtrundgänge angeboten.
Konstanz
2021 wurde in Konstanz die Ausstellung «Stoff.Blut.Gold. Auf den Spuren der Konstanzer Kolonialzeit» gezeigt. «Eine Ausstellung über die vielfältigen globalen Beteiligungen von Konstanzer Kaufleuten am transatlantischen Sklaven- und Kolonialhandel des 16. Jahrhunderts und die Suche nach dem El Dorado. Inszeniert von Studierenden der Universität und HTWG Konstanz und der Fachhochschule Kaiserslautern unter der Leitung von Kirsten Mahlke, Eva-Maria-Heinrich und Frank Forell.»
Es gibt auch einen Dekolonialen Stadtrundgang Konstanz mit Audioguide, den man sich herunterladen kann. Die gesprochenen Texte sind auch schriftlich einsehbar. Link