Rassismus in der Schweiz seit BLM 2020
Auch in der Schweiz wird seit Juni 2020 im Zusammenhang mit den BLM-Demonstrationen vermehrt über das Thema Rassismus gesprochen.
Im jährlichen Rassismusbericht erstellt von humanrights.ch und der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus steht: «Im 2020 debattierte die Schweiz- und die ganze Welt über strukturellen, institutionellen oder Alltagsrassismus in einem noch nie dagewesenen Ausmass. Leider drehte sich die Debatte allzu oft um die Frage, ob es in der Schweiz überhaupt Rassismus gäbe und ob von einem ernsthaften Problem geredet werden kann. Die Ergebnisse des Rassismusberichts zeigen aber deutlich, dass zahlreiche Menschen in der Schweiz alltäglich Rassismus und/oder rassistische Diskriminierung in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, im Internet und im öffentlichen Raum erleben.»
Black Lives Matter und die Debatte um Rassismus
zu diesem Thema siehe auf dieser Webseite: Postkoloniale Schweiz aktuelle Themen und Debatten
Wann aber ist eine Handlung, eine Aussage, oder eine Hausbezeichnung rassistisch?
Im Jahresbericht 2021 der Ombudsstelle der Stadt Zürich steht: «Wann aber ist eine Handlung, eine Aussage, oder eine Hausbezeichnung rassistisch? Spätestens seit dem Rassismusbericht 2017 vertritt die Stadt Zürich diesbezüglich eine klare Haltung und geht nicht nur von einer engen strafrechtlichen Rassismusdefinition aus, sondern von einem breiteren sozialwissenschaftlichen Verständnis, das die Betroffenenperspektive ins Zentrum stellt: Rassismus ist eine Diskriminierungsform, bei der die im Alltag erlebte Wirkung einer Handlung, einer Aussage oder einer Schrift im Zentrum steht, und die sich oft mit anderen Benachteiligungsaspekten wie Geschlecht, Herkunft oder soziale Schicht überschneidet (Mehrfachdiskriminierung). Oder in den Worten des Ombudsmanns ausgedrückt: Ob eine konkrete Handlung, eine Aussage oder eine Schrift möglicherweise als rassistisch zu betrachten ist, hängt nicht primär davon ab, ob sie von der verursachenden Person rassistisch gemeint war, sondern Ausgangspunkt muss sein, welche Wirkung sie auf eine betroffene Person hat. Es ist also nicht primär massgebend, ob ich rassistische Gedanken habe, wenn ich eine Schokoladenschaumspeise als M-Kopf bezeichne, sondern entscheidend ist, ob mein Gegenüber diese Aussage als rassistisch wahrnimmt. Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Deutungshoheit darüber, ob eine Handlung oder eine Aussage ausgrenzenden oder verletzenden Charakter hat, primär bei den Adressatinnen und Adressaten liegen muss. In anderen Bereichen wie den Bemühungen gegen Sexismus oder Behindertendiskriminierung hat sich diese Sichtweise längst durchgesetzt. Es gibt keinen Grund, im Bereich des Rassismus von etwas anderem auszugehen.»
Allgemeine Informationen zu Rassismus in der Schweiz
Die Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Bundes veröffentlicht alle zwei Jahre einen Bericht «Rassistische Diskriminierung in der Schweiz». Link
Grundlagenstudie zu strukturellem Rassismus in der Schweiz, Dez. 2022, Uni Neuenburg Link. Klare Begriffsdefinitionen mit breiter inhaltlicher Abdeckung des Themas. Ein Kapitel zu Rassismus im Bildungsbereich.
Umfrage des Amtes für Statistik 2021: Zusammenleben in der Schweiz: Vertiefende Analyse 2016-2020. Siehe Auswertung zum Thema Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus.
Rassismus in der Schweiz – die Fakten, Artikel in der Republik vom Juni 2020. Liefert erste gut zusammengefaste Informationen.
Zürich
Wie geht die Zürcher Stadtverwaltung mit Rassismus um? Rassismusbericht 2022. Link
Rassismus?In der Stadt Zürich? im Jahresbericht der Ombudsstelle Zürich 2021, S. 16ff. Link
Struktureller Rassismus – Alltagsrassismus
Was ist struktureller Rassismus
«Die sozialwissenschaftlichen Konzepte der institutionellen Diskriminierung und des institutionellen Rassismus verweisen auf das Zusammenwirken von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen und Behörden, ihren Normen und Praktiken in der Produktion und Reproduktion von Rassismus. Rassismus wird in dieser Betrachtungsweise nicht als rein individuelles Fehlverhalten verstanden, sondern als durch gesellschaftliche Strukturen reproduziertes Phänomen der Ausgrenzung, Dehumanisierung, systematischen Benachteiligung und Gewalt sowie der ungleichen Ressourcenverteilung. So zeigen sich institutionelle Diskriminierung und Rassismus etwa auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie im Bildungs-, Gesundheits-, Ausbildungs- oder Justizsystem. Mit Blick auf Racial Profiling geht es vor allem um Rechtsgrundlagen, die Personenkontrollen aufgrund von z.B. rassifizierten Merkmalen ermöglichen sowie das gesellschaftliche Verhältnis, durch das bestimmte als «anders» markierte Gruppen aus der als weiß vorgestellten Gesellschaft ausgeschlossen und kriminalisiert werden. Dabei spielt die durch dominante gesellschaftliche Diskurse imaginierte, vermeintlich ethnisch homogenen Nation durch die Ausgrenzung von konstruierten «Anderen» eine funktionale Rolle.»
Die Definition ist dem Artikel «Racial Profiling», institutioneller Rassismus und Interventionsmöglichkeiten von Vanessa Eileen Thompson auf bpb (2022) entnommen. Link
Struktureller Rassismus in der Schweiz
Auf die Frage, ob es strukturellen Rassismus in der Schweiz gäbe, antwortet die Historikerin Pamela Ohene-Nyako 2020 in einem Interview im Tangaram 44, S. 109: Ja, man sieht und erlebt ihn tagtäglich. Er wird im Racial Profiling und der Gewalt, die manchmal damit einhergeht, sichtbar. Er kommt in der Schule, bei der Personalrekrutierung, aber auch in der Berichterstattung der Fachstellen gegen Rassismus und der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus zum Ausdruck. Man erlebt ihn durch persönliche Geschichten und Reportagen. Ja, der strukturelle Rassismus bleibt in unserer Gesellschaft gegenwärtig. Fragt sich, ob die Mehrheit bereit ist, ihn wahrzunehmen. Link
Der Rassismus- und Migrationsforscher Rohit Jain geht in einem Interview vom Oktober 2020 «Rassismus wird in der Schweiz gern runtergespielt» auf die Unterscheidung von Alltags- und strukturellem Rassismus ein: «Rassismus bezeichnet nicht Menschen mit rechtsextremer Einstellung, sondern Strukturen mitten in der Gesellschaft. Dabei handelt es sich um ein System von Vorstellungen, Institutionen und Verhaltensmustern, das Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe höhere oder tiefere Positionen in der Gesellschaft zuordnet. Dies beeinflusst, wer welche Rechte, welche Privilegien und welche Anerkennung kriegt. Die erwähnten Beispiele von Alltagsrassismus sind nur die Oberfläche dieser komplexen Maschine und passieren oft unbewusst.»
Links zum Thema struktureller und Alltagsrassismus
Grundlagenstudie zu strukturellem Rassismus in der Schweiz, Dez. 2022, Uni Neuenburg Link. Klare Begriffsdefinitionen mit breiter inhaltlicher Abdeckung des Themas. Ein Kapitel zu Rassismus im Bildungsbereich.
Strukturellen Rassismus sichtbar machen. Gina Vega. Tangaram 46, Oktober 2022. Link
Strukturelle Diskriminierung im Bildungssystem. Elke-Nicole Kappus. Tangaram 46, Oktober 2022. Link
Was BLM für die Schweiz bedeuten. Zum ersten Mal prangert eine breite Öffentlichkeit strukturell verankerten Rassismus in der Schweiz an – und räumt mit helvetischen Mythen auf. Von Jovita dos Santos Pinto und Stefanie Boulila (Republik 23.6.2020)
Kann man Rassismus importieren? Flüchtlinge und die „Hierarchie der Ausländer“ in den 1960er Jahren. Immer häufiger hört man, dass Einwanderer rassistische Einstellungen mitbringen. Selbst wenn das der Fall ist: Wie werden aus Haltungen Handlungen? Welche Rolle spielt dabei der strukturelle Rassismus in den Aufnahmegesellschaften? Die Schweiz bietet dazu ein aufschlussreiches historisches Beispiel. Kijan Espahangizi, 18.6.2020 Geschichte der Gegenwart
Die Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Bundes veröffentlicht alle zwei Jahre einen Bericht «Rassistische Diskriminierung in der Schweiz». Link
Rassismus in der Schweiz – die Fakten, Artikel in der Republik vom Juni 2020. Liefert erste gut zusammengefaste Informationen.
Prolog: Mehr als ein Schlagwort. Dekolonisieren (in) der postkolonialen Schweiz. Patricia Purtschert in Tsantsa #24, 2019, S. 14-23. Online
Siehe Texte und Zitate auf der Seite von Vo Da
Zum zwanzigjährigen Jubiläum der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus wurde eine Reihe von Podcasts zum Thema «Wo steht die Rassismusbekämpfung heute? Und wie soll sie sich weiterentwickeln?» veröffentlicht.
ImagiNation. Rassismus gestern und heute. Fachtagung 2021 von GGGMigration. Literaturliste Link
Tangaram 44 (2020). Zeitschrift der EKR. Rassismus im Jahr 2020. In dieser Publikation gibt es zahlreiche sehr interessante Artikel zu verschiedenen Aspekten des Themas. Link
- «Rassismus und Rassifizierung sind nach wie vor wirksam» Interview mit Patricia Purtschert im Tangaram 44 (2020), S. 24ff. Link
- Rassismus «ohne Rasse» von Noémi Michel in Tangaram 44 (2020) S. 84ff. Link
Zürich
Wie geht die Zürcher Stadtverwaltung mit Rassismus um? Rassismusbericht 2022. Link
Rassismus?In der Stadt Zürich? im Jahresbericht der Ombudsstelle Zürich 2021, S. 16ff. Link
Sendungen zum Thema Rassismus
Warum es uns schwerfällt, über Rassismus zu sprechen. SRF, Input 17.5.23 Link
DOK-Film: Schwarzsein in der Schweiz – Rassismus im Alltag 2023 Link »
«Es ist sehr, sehr schwierig über Rassismus zu reden in der Schweiz. Er wird verneint, aber trotzdem ist er täglich präsent.» Das sagt Evelyn Wilhelm, die Schwester von Roger Nzoy Wilhelm, der im Sommer 2021 in Morges am Bahnhof von einem Polizisten erschossen wurde.» In diesem Dokfilm erzählen rassismusbetroffene Personen von ihren Erfahrungen mit Alltagsrassismus und strukturellem Rassismus. Letzterer wird insbesondere im Zusammenhang mit der Erschiessung von Roger Nzoy Wilhelm durch Polizisten aufgezeigt.
In der 10 vor 10 Sendung vom 18.6.2020 gab es einen Fokus Rassismus. U.a. werden sechs junge PoC interviewt, die über ihre Erfahrungen mit Rassismus in der Schweiz sprechen. Zusätzlich wird Rahel El-Maawi interviewt, die die Thematik theoretisch kontextualisiert. Link
Begriffe: Rassismus, Rasse, Race
Die Entstehung des Begriffs Rassismus
Rassismus kann als geschichtsprägende Macht während der Zeit des Imperialismus und in den Jahrzehnten danach und zum Teil bis heute gelten. Der Begriff selber entstand allerdings erst in den 1920er Jahren um das «Rassen»-Konzept zu kritisieren und kann als antirassistischer Kampfbegriff bezeichnet werden. Geulen schreibt, dass er geprägt wurde als übergeordneter Name für jene radikalen Bewegungen und Regime, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Politik nicht mehr nur der Ausgrenzung und Anfeindung, sondern der physischen Vernichtung gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen umsetzten.
Was heisst Rassismus
Bis anhin gibt es noch keine allgemein akzeptierte Definition von Rassismus. Im Folgenden finden Sie eine Zusammenstellung von verschiedenen Herangehensweisen an das Thema:
Heute gibt es einen Rassismus ohne Rassenbegriff: «Es ist von Kulturen, Gesellschaften, Völkern, Identitäten, Lebensformen und Lebensarten die Rede, die es durch Bekämpfung des anderen und Fremden um jeden Preis zu schützen gelte.» (Christian Geulen)
Mark Terkessidis spricht davon, dass die Definition des Gegenstandes Rassismus ein heikles Unterfangen sei. Christian Koller weisst darauf hin, dass man grundsätzlich eher «zwischen eher inhaltlichen, auf die biologistische Substanz des Rassismus abzielenden und eher formalen, auf seine sozial-psychologische Funktionsweise fokussierenden Definitionsversuchen unterscheiden» könne. Beide hätten aber ihre Probleme.
Christian Geulen betont, dass «Rassismus weder natürlich noch universal oder in anderer Weise metahistorisch sei, sondern ein Produkt menschlicher Kultur, eine Hervorbringung menschlichen Denkens, eine Form menschlichen Handelns und somit ein durch und durch historisches Phänomen. Das bedeutet vor allem: Der Rassismus ist wandelbar und er hat sich im Laufe der Geschichte in der Tat immer wieder verändert. Gemeinsamkeiten, die uns dennoch erlauben, seine historisch verschiedenen Formen miteinander zu verknüpfen, stehen nicht vorab fest, sondern stellen sich erst bei ihrer genaueren Betrachtung heraus: als wiederkehrende Strukturmerkmale und realhistorische Zusammenhänge.» Geulen betont weiter den folgenden Punkt. Wenn wir erkennen, «auf welche Weise der Rassismus an die Grundmaximen unseres Denkens anschliesst, sich ihnen anverwandelt oder sie instrumentalisiert, sind wir in der Lage, seine Wirkungsmacht zu begreifen und seine Überzeugungskraft effektiv zu mindern. Denn an Wirkungsmacht und Überzeugung hat der Rassismus bis heute leider wenig eingebüsst.»
Noah Sow beginnt seine Definition mit den folgenden Sätzen: «Um es an dieser Stelle mal kurz und prägnant zu sagen: Rassismus ist die Verknüpfung von Vorurteil mit institutioneller Macht. Entgegen der (bequemen) landläufigen Meinung ist für Rassismus eine «Abneigung» oder «Böswilligkeit» gegen Menschen oder Menschgruppen keine Voraussetzung. Rassismus ist keine persönliche oder politische «Einstellung», sondern ein institutionalisiertes System, in dem soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen für weissen Alleinherrschaftserhalt wirken.»
Grundlagenstudie zu strukturellem Rassismus
Im Folgenden stütze ich mich auf die Ausführungen in der Grundlagenstudie zu strukturellem Rassismus in der Schweiz von 2022, S. 15: «Zusammenfassend können wir Rassismus also definieren als ein System von Ansichten, Überzeugungen und Praktiken, die historisch entwickelte und aktuelle Herrschaftsverhältnisse legitimieren und reproduzieren. Rassismus im modernen westlichen Sinn basiert auf der «Theorie» der Unterschiedlichkeit menschlicher «Rassen» aufgrund zugeschriebener biologischer, kultureller oder sozialer Merkmale, welche soziale Beziehungen zwischen Menschen als unveränderlich und vererbbar darstellen (Naturalisierung). Die Menschen werden dafür in Gruppen zusammengefasst und vereinheitlicht (Homogenisierung), den anderen als grundsätzlich verschieden und unvereinbar gegenübergestellt (Polarisierung) und damit zugleich in eine Rangordnung gebracht (Hierarchisierung). Beim Rassismus handelt es sich also nicht einfach um individuelle Vorurteile, sondern um die Legitimation von gesellschaftlichen Hierarchien, die auf der Diskriminierung der so konstruierten Gruppen basieren. In diesem Sinn bezeichnet Rassismus immer ein durch gesellschaftliche Strukturen vermitteltes Herrschaftsverhältnis.»
Bis 2023 enthält das Historische Lexikon der Schweiz keinen Eintrag zum Thema Rassismus. In einem Artikel in der WOZ weist Bernhard Schär auf diesen Umstand hin und verfasst einen ersten Vorschlag, wie ein solcher Eintrag aussehen könnte. Link
Verschiedene Formen von Rassismus
Es gibt verschiedene Formen von Rassismus. So sind in der Schweiz beispielsweise People of Color und Schwarze Menschen, Jüd*innen, Sinti*zze und Rom*nja, Muslim*innen, Menschen mit Migrationsgeschichte und geflüchtete Menschen betroffen. Dementsprechend gibt es verschiedene Rassismen, z.B. Anti-Schwarzem Rassismus, Anti-muslimischem Rassismus, Antiziganismus, Antiasiatischem Rassismus.
Weitere Informationen zu den verschiedenen Rassismen z.B. auf MigrationsLab, Stichwort «Rassismus» Link
Geschichte des Begriffs «Rasse»
Seit über 500 Jahren wird der Begriff «Rasse» im Zusammenhang mit Menschen verwendet. Zum ersten Mal auf eine Menschengruppe angewandt wurde der Begriff in Spanien im letzten Jahrzehnt des 15. Jh. Es ging um die Ausgrenzung der Mauren und Juden und dieser Zeitpunkt markiert auch den Zeitpunkt, als zusätzlich zur «Reinheit des Glaubens» die Idee der «Reinheit des Blutes» als Zugehörigkeitskriterium an Bedeutung gewann.
Das Konzept «Rasse» erlebte seit dem 18. Jahrhundert einen rasanten Aufstieg in Wissenschaft und Gesellschaft. Jakob Tanner spricht von einer wahren Obsession der Wissenschaft mit «Rassen». Das Projekt der «Vermessung» des Menschen war zentral und bis ins 20. Jahrhundert hinein sollten Rassentypologien empirisch belegt werden. Dementsprechend kam es auch zu einer Hierarchsierung der angeblichen «Rassen». Jürgen Osterhammel weist darauf hin, dass um 1900 das Wort «Rasse» in vielen Sprachen gebräuchlich war und das weltweite Meinungsklima von Rassismus durchtränkt gewesen sei und dass wenige die Vorstellung, die Menschheit sei in «Rassen» unterteilt, bezweifelt hätten. Inzwischen ist widerlegt, dass es so etwas wie Menschen-«rassen» überhaupt gibt. Dementsprechend ist auch das Konzept «Rasse» diskreditiert, aber nicht verschwunden, sondern «kulturell gedreht worden».
Christian Geulen weist darauf hin, dass der Rassenbegriff bereits von Beginn an fast immer eine ideologische Funktion hatte: «Er rechtfertigte die gewalttätige Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen oder rief zu ihr auf. Gerade weil er im Prinzip willkürlich verwendbar ist, zugleich aber den Anspruch vertritt, etwas Natürlich-Objektives zu bezeichnen, ist er der vielleicht ideologieträchtigste Begriff, den die Neuzeit hervorgebracht hat. Sein impliziert Verweis auf eine natürliche Ordnung macht ihn zu einem Legitimations- und Begründungsbegriff, der Menschengruppen fundamental voneinander abgrenzt.»
Begriffe «Rasse» und «race»
Die unterschiedliche Bedeutung der Begriffe «race» und «Rasse» geht auf ihre unterschiedliche historische Verwendung zurück.
In den USA des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff «race» dazu verwendet, die Diskriminierungsstruktur (jahrhundertelanger Ausbeutung Schwarzer versklavter Menschen) sichtbar zu machen. Das Ziel war, rechtliche Gleichstellung und Partizipation für diese Menschen zu erreichen.
In Deutschland hingegen wurde der Begriff «Rasse» als Kampfbegriff zur Diskriminierung verwendet. Dabei ging es um einen Angriff auf die demokratische Gleichheits- und Freiheitsvorstellung. Das Ziel war, die Ideen der rechtlichen Gleichstellung und Partizipation ganz allgemein zu torpedieren.
Aufgrund des Bedeutungsunterschiedes der zwei Begriffe wird «race» z.T. auch im Deutschen verwendet. Dies sieht man z.B. im Zusammenhang mit dem Konzept der Intersektionalität, bei dem es darum geht, das Zusammenwirken von Klasse, Geschlecht und «race» zu betrachten. Hier steht «race» für eine sozio-kulturelle Kategorie und es geht darum, eine soziostrukturelle Tatsache zu beschreiben. «Race» ist selbstverständlich keine analytische Kategorie, sondern muss als gesellschaftsspezifisches, sozio-kulturelles Konstrukt gesehen werden.
Literatur und Links:
Christian Geulen. Geschichte des Rassismus. München 2007.
Christian Geulen. Rassismus ohne ‚Rassen‘. Über eine Ideologie und ihren scheinbaren Grundbegriff. ind Geschichte der Gegenwart, Juli 2020.
(K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Hg. Susan Arndt, Nadja Ofuatey-Alazard. Münster 2019.
Das Phantom «Rasse». Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus. Hrsg. N. Foroutan, S. Illmer u.a. Bonn 2018 (bpb). (Artikel z.B. von Ch. Geulen, J. Tanner, M. Terkessidis)
Texte auf bpb zum Thema Rassismus, z.B. Text von Ch. Koller Link
Rassismus – Geschichte, Spuren, Kontinuitäten, lpb-bw 2021. Link Z.B. der Artikel von M. Terkessidis «Was ist Rassismus», S. 4-11
Rassismus, Liebes «Historisches Lexikon der Schweiz»! Wir haben gesehen, dass dir ein Eintrag zum Stichwort «Rassismus» fehlt. Wir haben deshalb einen Vorschlag formuliert. Gern geschehen! von Bernhard C. Schär in der Woz vom 18. Juni 2020. (In dieser WOZ-Ausgabe hat es den Themenschwerpunkt «Rassismus».)
Tangaram 44 (2020). Zeitschrift der EKR. Rassismus im Jahr 2020. In dieser Publikation gibt es zahlreiche sehr interessante Artikel zu verschiedenen Aspekten des Themas. Link
Refaeil, Nora. Formen und Dynamiken von Rassismus. (Anti-Schwarzen-Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Muslimfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit: Es gibt mehrere Ausdrucksformen von gruppenspezifischen Rassismen. Worin wurzeln sie, wie unterscheiden sie sich und wie hängen sie zusammen? Ein Überblick.) In Tangaram 44 (2020), S. 9ff. Link
Rassismus «ohne Rasse» von Noémi Michel in Tangaram 44 (2020) S. 84ff. Link