Worum geht es?
Die «Mbembe-Debatte»
2020 konnte man die Debatte im Zusammenhang mit dem Philosophen und politischen Theoretiker Achille Mbembe verfolgen.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, warf dem Philosophen und politischen Theoretiker Achille Mbembe Antisemitismus vor. So habe Mbembe u.a. einen Vergleich zwischen dem südafrikanischen Apartheidsystem und dem Holocaust gezogen. Dieser Vergleich verbiete sich «angesichts der beispiellosen Verbrechen in der NS–Zeit und insbesondere angesichts der historischen Verantwortung Deutschlands».
In der Süddeutschen wird die folgende Aussage Mbembes festgehalten: «Ich respektiere die deutschen Tabus, aber es sind nicht die Tabus aller anderen Menschen auf der Welt. Und dasselbe gilt für die deutsche Schuld.» Mbembe sieht in dem Kampf gegen den globalen Antisemitismus eine Menschheitsaufgabe, aber er behält sich das Recht vor, auf andere Gewalterfahrungen zu verweisen, auf die deutsche Kolonialherrschaft, globale Ausgrenzungstechniken, Lager, Entrechtete.» In einem Artikel Mbembes in der Zeit weist der Autor u.a. den Vorwurf, den Holocaust «verharmlosen» zu wollen vehement zurück, betont die Bedeutung des Kampfes gegen den Antisemitismus und den Neonazismus und schreibt, dass «das Existenzrecht Israels grundlegend für das Gleichgewicht der Welt» sei.
Einerseits findet die Position Kleins in zahlreichen deutschen Zeitungen Unterstützung, andererseits ist die Unterstützung Mbembes aus dem Ausland gross, so verfassten z.B. 700 afrikanische Intellektuelle einen offenen Brief an Angela Merkel.
Die Frage nach der Vergleichbarkeit und Einzigartigkeit des Holocausts steht im Zentrum des sogenannten neuen Historikerstreits. Wobei darauf hingewiesen werden muss, dass diese Bezeichnug «Historikerstreit» nicht Journalist:innen eingeführt wurde, nicht von Historiker:innen. Dementsprechend wird er auch vorwiegend im Feuilleton ausgetragen.
Der «Neue Historikerstreit» – «Historikerstreit 2.0»
Das Buch von Michael Rothbergs «Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung» wurde in Deutschland 2021 kritisch aufgenommen. So wurde Rothenberg z.B. vorgeworfen, dass diese «multidirektionale» Gedenkkultur zu einer Auslöschung der Unterschiede zwischen dem Holocaust und den kolonialen Verbrechen sowie der Preisgebung der Beispielslosigkeit des Holocausts führen würde. Andererseits wurde darauf hingewiesen, dass gerade diese multidirektionale Erinnerung dazu beitragen könnte, nicht in der Sackgasse einer Opferkonkurrenz zu enden habe.
In der nun folgenden Debatte stehen folgende Fragen im Zentrum:
– Bedeutung und Position des Gedenkens an den Holocaust in Deutschland.
– Ist ein Vergleich mit anderen Genoziden sowie die Erweiterung der Gedenkkultur sinnvoll?
– oder führt das dazu, dass die Singularität verneint wird und somit der Holocaust verharmlost wird. Kommt es dabei sogar zu einem Angriff von der postkolonialen Linken und der libertären Rechten auf die Bedeutung des Gedenkens an den Holocaust?
– Muss die Gedenkkultur in Deutschland nicht auch die Veränderung in der Zusammensetzung der Gesellschaft widerspiegeln?
Der Text «Der Katechismus der Deutschen» von Dirk Moses führte zu einer Intensivierung der Debatte, die nach wie vor sehr vehement geführt wird.
Meron Mendel in einem Interview vom 1.4.21: „Jedes historisches Ereignis ist vergleichbar“, betont Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main und nimmt auch den Holocaust davon nicht aus. Trotzdem bleibe der Holocaust als Ereignis singulär und sei daher mit keinem anderen historischen Ereignis gleichzusetzen.»
Eine Zusammenstellung von Texten siehe unten.
Einen Rückblick auf die Debatte vom April 2022 auf bpb: Holocaust, Kolonialismus und NS-Imperialismus. Wissenschaftliche Forschung im Schatten einer polemischen Debatte von Frank Bajohr und Rachel O’Sullivan
«Umkämpftes Erinnern. Gedenken an Nationalsozialismus und Kolonialismus»
Blickwinkeltagung der Bildungsstätte Anne Frank 19. – 20. Juni 2023
Die folgenden Texte stammen vom Twitter-Account der Bildungsstätte Anne Frank (gepostet 19.6.23)
Teresa Koloma Beck macht in ihrer Keynote auf eine große Schwierigkeit der Debatte aufmerksam: Die Begegnung zweier sehr unterschiedlicher Perspektiven. Die der Nachfahren der Opfer & die der Nachfahren der Täter*innen. Und diese Perspektiven haben ungleich viel Einfluss.
«Die Perspektive der Unterdrückten & ihrer Nachfahren gilt als kompromittiert: Oft heißt es, für eine nüchterne Analyse fehle ihr die Distanz. So sind es ausgerechnet die Täter*innen & ihre Nachfahren, die Unbefangenheit für sich beanspruchen können», so Teresa Koloma Beck.
Teresa Koloma Beck weist darauf hin, dass der Erinnerungsdiskurs unter asymmetrischen Bedingungen stattfindet: “Vielleicht sitzen wir alle am selben Tisch, doch während einige zwischen Sitzgelegenheiten wählen und wechseln können, sitzen andere auf wackeligen Hockern.”
Die Keynote kann hier angeschaut werden
Podium «Synergie vs. Konkurrenz: Postkolonialismus und Holocausterinnerung»
Zentrale Frage für das fünfköpfige Podium: Wenn es theoretisch keine Konkurrenz geben müsste, warum tritt sie immer wieder in Diskursen auf?
«Jürgen Zimmerer sagt, es gibt ein Ungleichgewicht in der Erinnerung an Holocaust und Kolonialismus: “Es ist keine Konkurrenz, sondern umkämpfte Erinnerung, weil beide gegen gesellschaftliche Widerstände erkämpft werden müssen. Und die Widerstände konzentrieren sich jetzt stärker auf den Kolonialismus, weil es bisher für Politiker der Mitte nicht möglich ist, den Holocaust in Frage zu stellen oder zu leugnen. Deshalb konzentrieren sich die revisionistischen Debatten auf den Kolonialismus”
Auswahl Texte – Podien / Material für den Unterricht
Zusammenstellung von Texten in deutschen Zeitungen und Hinweis auf Podien:
Zimmerer, Jürgen und Michael Rothberg. Enttabuisiert den Vergleich. Die Zeit. 14.4.2021. Link
Moses, Dirk. Der Katechismus der Deutschen. Geschichte der Gegenwart. 23.5.2021 Link
Kaube, Jürgen. Die Gleichmacher. FAZ. 14.6.2021. Link
Frei, Norbert. Was sie stört. Süddeutsche. 17.6.2021. Link
Friedländer, Saul. Ein fundamentales Verbrechen. Zeit-online, 7.7.21. Link
Conrad, Stefan. Erinnerung im globalen Zeitalter: Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert. Merkur. 26.7.2021. Link
Habermas, Jürgen. Der neue Historikerstreit. Philosophie Magazin. 9.9.2021. Link
Michael Rothberg. Holocaust und Kolonialismus: Wissenschaftler müssen vergleichen. Berliner Zeitung vom 8.2.22 Link
Beispiellos oder vergleichbar? – Der Streit um das Holocaust-Gedenken. Diskussion auf SWR2 vom 18.1.2022: Gregor Papsch diskutiert mit
Prof. Dr. Norbert Frei, Historiker, Universität Jena
Prof. Dr. Sybille Steinbacher, Historikerin, Universität Frankfurt a.M. und Direktorin des Fritz Bauer Instituts
Prof. Dr. Jürgen Zimmerer, Historiker, Universität Hamburg und Leiter der „Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe»
Hijacking Memory. Der Holocaust und die Neue Rechte. Konferenz in Berlin im Juni 2022. Artikel darüber in der SD «Ein fairer Streit, endlich»
„Umkämpftes Erinnern. Gedenken an Nationalsozialismus und Kolonialismus“. Konferenz mit der Bildungsstätte Anne Frank. 19. und 20. Juni 2023. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Thema (Post-)Kolonialismus. Denn die Fragen nach der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit, ihren realen Folgen in der Gegenwart und die Beziehung von Holocaust und Kolonialismus in der kollektiven Erinnerung sind zentral und müssen jetzt – jenseits von Opferkonkurrenzen – geführt werden. Link
Podium am 19.6., 19:30 (Liveübertragung): Synergie vs. Konkurrenz: Postkolonialismus und Holocausterinnerung mit Micha Brumlik, María do Mar Castro Varela, Verena Haug, Jürgen Zimmerer, Moderation: Meron Mendel
«Historikertag Leipzig, 2023: zwei Podien zum Thema»
Das Thema ist auch am und parallel zum Historikertag in Leipzig auf zwei Podien präsent.
Die Debatte um Kolonialismus und Holocaust revisited, moderiert von C. Emcke und M. Wildt. Link
Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein. Diskussion von J. Zimmerer mit Autor:innen des neuen Buches mit demselben Namen. Link
Ein neuer »Historikerstreit«? Erinnerungskämpfe im Zeichen des Holocaust
Podium im Theater Kampnagel i
Moderation: Jürgen Zimmerer und Tania ManchenoMeron Mendel und Dirk Mosse diskutieren u.a. über den Text «Katechismus der Deutschen»
Kommentar zur Debatte.
Ribi, Thomas. Die Globalisierung verändert die Vergangenheit – das zeigt die Debatte um Holocaust und Kolonialismus. NZZ. 30.8.2021. Link
Frage nach einer Verbindung von kolonialen Verbrechen, z.B. in Namibia, und dem Holocaust.
Der Text von Jonas Kreienbaum auf bpb (10.2021) bietet dazu einen guten Einstieg. Link
Experte aus postkolonialer Perspektive zu dem Thema ist Prof. Dr. Jürgen Zimmerer aus Hamburg Link
Inzwischen wurden zahlreiche Debattenbeiträge und Positionen in Sammelbänden publiziert. Zwei dieser Publikationen sind Jenseits von Mbembe. Geschichte, Erinnerung, Solidarität, herausgegeben von Matthias Böckmann, Matthias Gockel, Reinhart Kößler und Henning Melber, und der Band Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – die Debatte, herausgegeben von Susan Neiman und Michael Wildt.
Material für den Unterricht:
Auf der Webseite der KZ-Gedenkstätte Neugamme gibt es umfangreiche Unterlagen zum Thema «Verflechtungen zwischen kolonialem und rassistischem Denken und Handeln im Nationalsozialismus».
Unter dem Titel «Thema und Ziel» steht:
«Im Rahmen des Projekts wurden Online-Materialien für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit entwickelt. Mit dem Schwerpunkt auf Biografien von People of Color legen diese Materialien Verflechtungen zwischen kolonialem und rassistischem Denken und Handeln im Nationalsozialismus frei und verknüpfen damit die bis heute weitgehend voneinander getrennten Geschichtsnarrative zu Kolonialismus und Nationalsozialismus. Die Geschichte des Nationalsozialismus wird auf diese Weise in einen transnationalen und globalgeschichtlichen Kontext eingebettet. Die Materialien sollen zu einer rassismuskritischen Sensibilisierung beitragen und Anstöße für eine multiperspektivische und inklusive Erinnerungskultur geben.» Link zu den Materialien
Stolpersteine in Berlin: Martha Ndumbe Link
Zitate aus der Diskussion «Beispiellos oder vergleichbar?»
„Wir brauchen eine Erweiterung der Erinnerungskultur. Man kann die Singularität der Shoah herausstellen und trotzdem sagen: es gibt Vorläufer auch im Kolonialismus.“
Prof. Jürgen Zimmerer, Globalhistoriker, Universität Hamburg
„Hinter der Behauptung vom angeblichen Tabu des Vergleichs steht das Interesse, die Besonderheit des Holocaust im Verhältnis zu anderen Verbrechen des 20. Jahrhunderts einzuebnen.“
Prof. Sybille Steinbacher, Historikerin, Universität Frankfurt
Links und Literatur
– Jürgen Zimmerer Hsg.. Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein. Reclam 2023.
– Saba-Nur Cheema. Erinnern ohne Konkurrenz. Shoah und Kolonialismus in der historisch-politischen Bildungsarbeit. In: Erziehungswissenschaften dekolonisieren. Theoretische Debatten und praxisorientierte Impulse. Hsg. Yaliz Akbaba und Alisha M.B. Heinemann. Weinheim 2023. S. 388 – 396. Link
– Thomas Pegelow Kaplan: Rezension zu: Neiman, Susan; Wildt, Michael (Hrsg.): Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – die Debatte. Berlin 2022. Böckmann, Matthias; Gockel, Matthias; Kößler, Reinhart; Melber, Henning (Hrsg.): Jenseits von Mbembe. Geschichte, Erinnerung, Solidarität. Berlin 2022. H-Soz-Kult 2023. Link
– Frank Bajohr, Rachel O’Sullivan. Holocaust, Kolonialismus und NS-Imperialismus Wissenschaftliche Forschung im Schatten einer polemischen Debatt. bpb 2022. Link «Ist der Holocaust singulär oder gibt es Kontinuitätslinien zwischen Kolonialismus und Holocaust? Diese Frage hat in den letzten Jahren um einen Streit in der Ausrichtung der deutschen Erinnerungskultur geführt. Dabei vertreten beide Seiten erinnerungskulturelle Anliegen, die sich keineswegs ausschließen.» Eine längere Version dieses Beitrags erschien zuerst in der Zeitschrift «Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (Band 70 Heft 1)»
– Den Schmerz der Anderen begreifen – Holocaust und Weltgedächtnis. Gespräch über ihr Buch mit Charlotte Wiedemann geführt von René Aguigah, Ressortleiter Literatur von Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur. Heinrich Böll Stiftung Juli 2022 Link Charlotte Wiedemann sucht in ihrem jüngsten Buch nach Wegen, Erinnerungskultur im Geist globaler Gerechtigkeit neu zu denken. Dazu bringt sie zwei Anliegen in einen Dialog, die ihr auch persönlich am Herzen liegen: Sensibilität und Verantwortung für die Shoah bewahren und einseitig europäisches Geschichtsdenken überwinden.
– Charlotte Wiedmann. Afrikanische Perspektiven auf Holocaust und Erinnerung. Ein Essay über Weltgedächtnis, Prestige und Opferhierarchien. Geschichte und Gegenwart 2022. Link
– Verheerende Folgen für den Wissenschaftsstandort Deutschland? Postkolonialismus und die Causa Mbembe. Andreas Eckert, Zeitgeschichte-online 2021 Link