Kawésqar (Chile)
Zu Material im Unterricht siehe auf dieser Webseite unter Schweiz: Neuzeit bis jetzt, Völkerschauen
Eine 6000 jährige Geschichte in Patagonien
Die Geschichte der Kawésqar reicht 7000 Jahre zurück. Sie siedelten bis Anfang des 20. Jahrhunderts in Westpatagonien. Ihre Lebensweise als Seenomaden war aussergewöhnlich. Sie naviegierten in Booten aus Rinden und Tierhäuten entlang der Fjorde Patagoniens auf der Suche nach Fischen, Meeresfrüchten und Wildtieren. Ihre Unterkünfte waren transportierbar.
«Die Natur spielt auch heute noch eine zentrale Rolle im kulturellen, spirituellen und wirtschaftlichen Leben der Kawésqar. Sie betrachten die Landschaft und die Tiere nicht nur als Ressourcen, sondern als gleichwertige und respektierte Partner. Ihr traditionelles Wissen über die Pflanzen und Tiere, die Ökosysteme und das Wetter ist über Generationen weitergegeben worden und ermöglichte es ihnen, in dieser meist rauen und abgelegenen Umgebung zu überleben.» (Link)
Die Kawéskar haben eine sehr reiche, mündlich Überlieferung, z.B. über die Art und Weise, wie sie die Welt sehen und verstehen. Über das Weltbild geben die Unterlagen zur Ausstellung Auskunft: «Es gab drei Zeitalter bei der Entstehung der Welt: Das erste Zeitalter war das des Chaos, in dem die Winde gegeneinander wehten und die Welt noch nicht geformt worden war. Das zweite Zeitalter war dasjenige, das am besten am besten in mythischen Geschichten dargestellt wird, in denen Menschen, Tiere, Ungeheuer, Geister, etc. alle gemeinsam die Erde teilten; der Übergang zum dritten Zeitalter, dem der heutigen Welt, in der es keine Veränderungen mehr gibt und die Welt stabil erscheint.» Für weiter Ausführungen siehe Link
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lebten ca. 4000 Kawésqar in Westpatagonien. Ab diesem Zeitpunkt begann ein kontinuierlicher Kontakt zu Kolonisten, der in gewaltsamen Auseinandersetzungen mündete. Zusätzlich setzten Infektionskrankheiten der indigenen Bevölkerung stark zu.
Verbindung zur Zürich: Entführung und Völkerschau in Zürich
1881 wurden 11 Kawésqar entführt und in Punta Arenas an einen deutschen Kapitän «verkauft». In Europa wurden sie gezwungen, an einer von Carl Hagenbeck organisierten Völkerschau teilzunehmen. 5 Mitglieder der Gruppe, deren ursprüngliche Namen nicht mehr bekannt sind, starben an Krankheiten in Zürich. Nur 4 Kawésqar konnten in ihre Heimat zurückkehren.
Die Kawesqar und der chilenische Staat
1920 lebten in Patagonien noch 150 Kawesqar. Zur selben Zeit wurden sie vom chilenischen Staat gezwungen in Städte umzusiedeln. Weitere Umsiedlungen, der Zwang zur zweisprachigen Erziehung führten u.a. dazu, dass die Sprache heute nur noch von 5 Menschen gesprochen wird. Francisco Gonzálés› Grossmutter erzählte ihrem Enkel beispielsweise von Schlägen, wenn sie in der Schule mit ihren Freundinnen Kawésqar sprach. Lange wurde die Kultur der Kawésqar von der chilenischen Regierung unterdrückt. Francisco Gonzales weist an einer Führung auch darauf hin, dass nach wie vor in der chilenischen Presse alle paar Jahre wieder deklariert würde, dass die Kawésqar ausgestorben seien. In Interviews sagt er weiter, dass es «einfacher» war, in Zürich ein Museum für eine Ausstellung zu finden als in Chile.
Heute steht die Pueblo Kawésqar, eine gemeinnützige Organisation, dafür, dass die Kultur, Sprache und das Wissen der Kawésqar erhalten und gepflegt werden.
Der Nationalpark Kawésqar
Das riesige Gebiet, das für sechstausend Jahren von den Kanus der Kawésqar befahren wurde, ist heute das größte Naturreservat Chiles. Während der vergangenen Jahrzehnten hat der Staat durch die Einrichtung von Nationalparks und Meeresschutzgebieten ein Gebiet geschützt, das viermal so groß ist wie die gesamte Schweiz. Die strengen Schutzbestimmungen bedeuten allerdings, dass den Kawésqar der Zugang zu ihrem ursprünglichen Gebiet nur einmal pro Jahr für eine Woche erlaubt wird. Reiche Touristen haben z.B. im Rahmen einer geführten Exkursion während dem ganzen Jahr Zugang zu diesem Gebiet. Langsam scheint ein Umdenken bezüglich dieser ausschliessender Form von Naturschutz stattzufinden. So erklärte der chilenische Botschafter in der Schweiz nach der Premiere des Dokumentarfilms «Voices of Ko Awál», dass auch ein Schutz der Kultur mitgedacht werden müsse.
Der Name Kawésqar
Kawésqar beschreibt per Definition Menschen oder Menschen unter anderen Lebewesen. Etymologisch setzt es sich aus zwei Wörtern zusammen – Káwes = Haut und Qar = Knochen. Deshalb können Menschen, menschliche Wesen oder Kawésqar alle sie sein. Obwohl ein anderes Wort geprägt wurde, um Fremde zu beschreiben, die in das Gebiet kommen oder es besuchen, diejenigen, die von weit her kommen – Jemmá -, das Menschen oder Gegenstände zu bezeichnen, die nicht zur Kultur der Kawésqar-Kultur gehören. Link
Die Kawésqar verwenden keine Begrüssungsformel wie z.B. «Grüezi» oder «Wie gehts». Dies hat mit der nomadischen Lebensweise zu tun. Da sie grösstenteils auf dem Wasser unterwegs waren, waren Begegnungen selten. Wenn sie stattfanden, setzten sich die Gruppen zusammen und erzählten sich Geschichten darüber, was seit der letzten Begegnung passiert ist. Dazu gehört «Wie war Eure Navigation?» Für die Ausstellung gab es ein Plakat mit Übersetzungen von Begrüssungen aus anderen Sprachen.
Weitere Informationen
Informationsmaterial zur Ausstellung von 2023 Link
Informationen zum Thema Völkerschau in Zürich: Kapitel 1: Feuerländer in Fluntern, ausgestellt bis zum Tod. In: Wildfremd, hautnah. Zürcher Völkerschauen und ihre Schauplätze 1835 -1964. Rea Brändle. Zürich 2013 (2). S. 14- 29.
Im Anschluss an den Besuch einer Delegation von Kawesàr im Sommer 2023 ist ein Dokumentarfilm entstanden, der am 26.5.24 im Völkerkundemuseum Zürich Premiere feierte. Realisiert wurde er von der Fundación Pueblo Kawésqar, Francisco González von Pueblo Kawésqar fungierte als Regisseur.
Auf der Webseite des Völkerkundemuseums Zürich steht:
«Die Begegnung mit der Kawésqar-Kultur im Sommer 2023 im Ethnografischen Museum lud die Besucher zu einem versöhnlichen Dialog ein, der sich unter dem Motto «Ko Aswál – Der nächste Tag» zwischen zwei weit voneinander entfernten Welten entwickelt hat. Sie sind vereint durch den Willen, die menschliche Vielfalt zu verstehen, zu heilen und zu feiern. Durch intime Zeugnisse dieser Begegnung, fesselnde Bilder und tiefgründige Überlegungen nimmt uns dieser Dokumentarfilm mit auf eine Reise der Entdeckung, Versöhnung und Hoffnung. Er ist ein Aufruf, über unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachzudenken, und eine Erinnerung an die Kraft des Dialogs, physische und kulturelle Grenzen zu überwinden, Schmerz in Lernen und Distanz in eine Brücke zum gegenseitigen Verständnis zu verwandeln.» (übersetzt mit deepl)
Ihre Vorfahren wurden in Zürcher Menschenzoos ausgestellt – sie kamen 140 Jahre später zurück, auf der Suche nach Versöhnung. Giorgio Scherrer, NZZ 25.5.24.
«Chilenische Kawésqar besuchten vergangenes Jahr die Stadt. Ein bewegender Film zeigt nun die Geschichte dieser Begegnung.»
«Die alte Frau reisst grünes Schilfgras aus dem Boden und weint. Sie sagt: «Ich wusste nie, wie das geht, wie man das Schilf richtig ausreissen und flechten kann. Ich wollte es nicht wissen. Aber meine Mutter zeigte es mir trotzdem. Dann wurde sie krank, musste ins Spital. Da begann ich, allein zum Sammeln zu gehen. Ich merkte: Wenn es wie Öl durch meine Hand fliesst, dann ist das Schilf bereit. Ich spürte es hier, in meinem Herzen. Ich begann zu flechten, und als meine Mutter starb, sagte sie mir: Tochter, knüpf weiter. Lass das Schilf nicht trocken werden.»»
«Schilfgras zu flechten, sagt eine andere Frau, sei wie die eigene Geschichte zu erzählen. «Wenn du flichtst, dann kommt die Geschichte hoch, sie scheint in den Himmel zu steigen», sagt sie und knetet das knirschende Gras in ihren Händen.»
2023 gibt es eine Zusammenarbeit der der Fundación Pueblo Kawésqar mit dem Völkerkundemuseum Zürich. Eine Delegation der Kawésqar konzipierte ihre eigene Ausstellung und während dreier Wochen zahlreichen Veranstaltungen. Es ging darum, den Menschen in Zürich die vielfältigen Aspekte ihrer Kultur und ihres Lebensalltags vorzustellen. Aber zentral war auch, einen Prozess der Heilung initiieren zu können. Denn bis anhin galt die Schweiz – und die Stadt Zürich im Besonderen – für die Kawésqar als schlimmster Ort Europas.
«Francisco González sagt, «die Menschenzoos, die Toten in Zürich: Das ist für uns wie eine Wunde, die über die Jahre nie ganz geheilt ist». Aber mit der Rückgabe, die er als verpasste Chance für einen tiefergehenden Austausch sieht, sei es für ihn mit der Heilung nicht getan. Denn González will sich – anders als manch älterer Kawésqar – nicht von der Stadt abwenden, die seinen Vorfahren einst die Menschlichkeit absprach. Er sucht hier vielmehr etwas, worauf seine Gemeinschaft noch immer wartet: eine Versöhnung.» (NZZ-Artikel, 21.7.23)
In den Begegnungen während der drei Wochen in Zürich war das Ziel, neue Beziehungen zwischen den Kawésqar und Zürich entstehen zu lassen und somit ein neues Kapitel in der gemeinsamen Geschichte entstehen zu lassen. Das Ziel ist, einen Schritt weiter zu gehen von dem schrecklichen Zusammentreffen im Rahmen der Völkerschauen.
Die ist gelungen. In den Workshops und weiteren Veranstaltung fanden zahlreiche, wertschätzende Begegnungen zwischen Vertreter:innen der Delegation der Kawésqar und Besucher:innen aus Zürich statt. Diese positiven Begegnungen bilden nun den Ausgangspunkt für eine neue Phase in der gemeinsamen Geschichte.
Zwei Dokumentarfilme, die im im Rahmen der Ausstellung gezeigt werden, können auch auf youtube angeschaut werden:
Auf der Webseite des Völkerkundemuseums gibt es eine Zusammenstellung von Artikeln, die zur Ausstellung publiziert worden sind.
1882 starben 5 Kawésqar in Zürich, nachdem sie zuvor bereits in zahlreichen Städten gezwungen wurden, Teil einer Völkerschau zu sein. Die Leichen wurden der rassistischen Weltsicht der Zeit in Zürich entsprechend zunächst ins Anatomische Institut gebracht und später ins Anthropologische Institut und dort vergessen. Erst 2008 wurden die Skelette von einem Filmemacher «entdeckt».
In einem Artikel der NZZ beschreibt Giorgio Scherrer die folgende Szene: Die Toten liegen in Kartonschachteln auf einem weissen Schreibtisch. Der Schädel einer Frau – genannt «Frau Capitán» – wird in einem roten Plastikbehälter herumgereicht. Ein schmuckloses Büro mit einem Abfalleimer in der Ecke, hilflose Gesten und Blicke. Und eine Schweizer Stimme, die fragt: «Kann ich davon dann ein Foto haben?» So sieht das erste Wiedersehen der Kawésqar mit ihren verstorbenen Vorfahren aus. Im Frühjahr 2008 findet es statt, in den Räumen des Anthropologischen Instituts der Universität Zürich, wo sie seit fast 130 Jahren in der Sammlung lagern. Eine chilenische Filmcrew hat sie hier aufgespürt und bringt die Bilder der Gebeine nach Hause. Eine ältere Frau der Kawésqar sagt im Film nach einem Blick auf die Aufnahmen: «Eine Verwandte meiner Mutter ist damals verschwunden. Niemand wusste, wo sie war. Wer weiss, vielleicht liegt sie dort.» Pause. «Wir müssen sie zurückholen.»
2010 kam es endlich zu einer Rückführung der Ahnen und einer traditionellen Bestattung in der ursprünglichen Heimat der Kawésqar.
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